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#Redenhilft: Hamburger Social-Startup „Redezeit für dich" hört zu

18. Mai 2022
Zuhören gegen Einsamkeit – Bei „Redezeit für dich" bieten geschulte Coaches ehrenamtlich Gespräche an

„Reden ist Silber, Zuhören ist Gold" – Doch wann hören wir wirklich zu? Zu selten, wenn es nach Coach Florian Schleinig geht. Darum hat er 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, gemeinsam mit Kolleg*innen die soziale Organisation „Redezeit für dich" in Hamburg gegründet. Heute verschenken im Rahmen der Initiative bereits rund 390 Coaches und Psycholog*innen ihre Zeit in Form von digitalen Gesprächen.

„Redezeit für dich": Resilienz stärken in Krisenzeiten 

Laut einer Statista-Umfrage erleben 25 Prozent aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben Angststörungen. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe sich dieser Umstand noch weiter verschärft. Gerade Einsamkeit ist ein großes Problem, nicht nur für ältere Menschen, und kann auf lange Sicht sogar krank machen. Menschen brauchen Verbindungen und dazu gehört auch, von anderen gehört zu werden: „Jeder Mensch sollte sich seiner seelischen Belastungsgrenze bewusst sein und mit anderen Menschen offen – ohne Wertung – darüber reden können“, erzählt Florian Schleinig, der neben seiner Tätigkeit als Coach hauptberuflich für Hamburg Marketing arbeitet. Gemeinsam mit den Coaching-Kolleg*innen Ute von Chamier, Annika Reiß und Christian Stegemann kam er Ende 2019 auf die Idee, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen ein offenes Ohr finden. Nicht als Ersatz für Psychotherapie, aber als niederschwelliges Angebot, das möglichst vielen Menschen zugänglich ist.

So entstand die Initiative „Redezeit für dich“, die seit Januar 2021 als gemeinnütziges Unternehmen (gUG) aufgestellt ist, und mittlerweile aus einem Team aus rund zwölf Ehrenamtlichen besteht. Neben dem deutschsprachigen Angebot gibt es mittlerweile auch eine englische Version und die Möglichkeit, unter anderem auf Türkisch, Französisch und Polnisch an die Coaches heranzutreten. Zudem ist die Initiative aus aktuellem Anlass seit kurzem Partner der Organisation Alliance for Ukraine, um die mentale Grundversorgung von Geflüchteten zu sichern. Darüber hinaus kooperiert das Social Startup mit weiteren Organisationen, die beispielsweise Ehrenamtliche zum Umgang mit Traumata ausbilden – auch in den Sprachen Ukrainisch und Russisch.

Florian Schleinig, Mitgründer der Initiative „Redezeit für Dich“

„Sidewalk Talks” – von der Straße ins Netz

Die Idee hinter „Redezeit für dich“ ist jedoch nicht ganz neu. Inspirieren lassen haben sich Florian Schleinig und seine Mitgründer*innen von einer Bewegung aus San Francisco namens Sidewalk Talks”. Deren Mitglieder stellen auf Bürgersteigen (engl. sidewalk) Stühle auf, die wiederum vorbeikommende Passanten dazu einladen sollen, zu verweilen und darüber zu sprechen, was ihnen gerade auf dem Herzen liegt. 

Ursprünglich war auch „Redezeit für dich“ als analoger Begegnungsraum gedacht. Dann kam aber die Corona-Pandemie. Anstatt sich jedoch entmutigen zu lassen, haben die Gründer*innen das Ganze kurzerhand im März 2020 ins Internet verlagert: „Es gab zunächst kein richtiges Konzept, wir haben mehr reagiert, als geplant. Wir hatten anfangs auch keine Website, nur die eigenen Social-Media-Kanäle", so Schleinig. Die Idee erwies sich jedoch auch ohne große Vorplanung als erfolgreich – nicht zuletzt, weil durch die Pandemie der Redebedarf zugenommen hatte –, auch die Resonanz auf die Initiative war durchweg positiv. Bereits nach zwei Wochen hatten sich rund 150 ausgebildete Coaches der Initiative angeschlossen und sich bereiterklärt, Menschen ihr Ohr und ihre Zeit zu schenken.

Coaches verschenken ihre Zeit pro bono

Mittlerweile hat „Redezeit für dich“ auch eine eigene Website, über die Interessierte sich zunächst einen Überblick über die Coaches verschaffen können, die allesamt über speziellen Kompetenzen verfügen: von Stressbewältigung über berufliche Orientierung bis zur Hilfe für Familien. Anschließend kann direkt ein Termin für ein digitales Gespräch, ähnlich wie bei der Telefonseelsorge, vereinbart werden. Dies stellt jedoch kein klassisches Erstgespräch dar, sondern alle Coaches agieren pro bono. Es fließt also kein Geld. „Die Coaches müssen vorab eine Vereinbarung unterzeichnen, in der auch unsere Haltung und Werte verankert sind, zu der sie sich bekennen", erklärt der Mitgründer. Zudem müssen diejenigen, die Redezeit anbieten, eine abgeschlossene Ausbildung, beispielsweise als Coach oder Psychotherapeut*in, vorweisen können. Zur Qualitätssicherung, „bevor ein Coach in die Kartei aufgenommen wird, findet außerdem in der Regel ein Vier-Augen-Gespräch mit uns statt", so Schleinig. Um den Ehrenamtlichen etwas zurückzugeben, bietet Redezeit für dich mittlerweile kostenlose Workshops an, beispielsweise zum aktivem Zuhören oder Social-Media-Marketing.

Coaches, die Redezeit anbieten

Betriebliches Gesundheitsmanagement als Geschäftsmodell

Neben kostenloser Redezeit bieten Florian Schleinig und seine Kolleg*innen auch betriebliches Gesundheitsmanagement (BgM) in Unternehmen an. Namhafte Firmen wie Vaude, Urban Sports Club und Gebr. Heinemann bieten ihren Mitarbeitenden in Zusammenarbeit mit der Initiative die Möglichkeit, Redezeit in Anspruch zu nehmen, um zum Beispiel mit den veränderten Arbeitsbedingungen seit der Corona-Krise besser umgehen zu können. Jedoch ist „Redezeit für dich“ kein Angebot, das mit einem Ende der Pandemie obsolet werden könnte. Ganz im Gegenteil: „In Zukunft wollen wir uns noch stärker als Tool für BgM in Unternehmen etablieren, um gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben“, erzählt Schleinig. „Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft das aktive Zuhören mehr oder wieder lernen.“ Insbesondere die Entstigmatisierung und Enttabuisierung vom Sprechen über mentale Gesundheit liegen ihm und der Initiative besonders am Herzen.
mb/sb

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